Entkoppelt von der Politik

Polen ist wegen der umstrittenen Politik der PiS-Regierung international ins Gerede geraten. Den Wirtschaftsgang scheint dies nicht zu belasten. Aber dies gilt nur vordergründig.

Matthias Benz, Wien
Drucken
Die Verfassung besteht aus «du» und «ich», steht auf dem Plakat an einer Demonstration gegen die Justizreform. (Bild: Alik Keplicz / AP)

Die Verfassung besteht aus «du» und «ich», steht auf dem Plakat an einer Demonstration gegen die Justizreform. (Bild: Alik Keplicz / AP)

Polen ist seinem Ruf als Wachstums-Champion in Europa wieder einmal gerecht geworden. Laut am Mittwoch publizierten Zahlen wies das Land, das nicht einmal in der Finanzkrise in eine Rezession gerutscht war, im zweiten Quartal 2017 erneut eine der höchsten Wachstumsraten in der EU auf. Das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) legte gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 3,9% zu. In der gesamten EU wuchs die Wirtschaftsleistung derweil durchschnittlich um 2,3%. Nur andere östliche EU-Länder wie Tschechien oder Rumänien avancierten noch stärker.

Internationale Kritik

Der gute Wirtschaftsgang mag überraschen angesichts der Schlagzeilen, in die Polen wegen der umstrittenen Politik der nationalkonservativen PiS-Regierung geraten ist. So ist ihr jüngster Vorstoss zu einer Justizreform vielerorts als Angriff auf Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit kritisiert worden; es kam zu grossen Protestdemonstrationen im Land, und die EU leitete ein Verfahren gegen Polen ein. Solche politischen Turbulenzen halten das Land bereits seit dem Amtsantritt der PiS-Regierung vor eindreiviertel Jahren in Atem. Von daher ist erklärungsbedürftig, warum der Wirtschaftsgang nicht darunter leidet.

Mit der Justizreform füge die PiS-Regierung ihrer Politik einen weiteren Mosaikstein hinzu, meint Christopher Hartwell vom führenden polnischen Wirtschaftsforschungsinstitut Case. Aber sie stehe letztlich in einer Reihe mit früheren Vorstössen der Kaczynski-Partei, die für die Wirtschaftsentwicklung ebenfalls problematisch seien. Tatsächlich machte die PiS-Regierung bereits ab Ende 2015 von sich reden mit der Aushebelung des Verfassungsgerichts, mit dem Bestreben nach einem grösseren Staatseinfluss in der Wirtschaft, mit wirtschaftspolitisch heiklen Massnahmen wie einer Senkung des Rentenalters oder mit Sondersteuern, die gegen ausländische Firmen gerichtet waren. Zusammengenommen habe dies das Investitionsklima durchaus belastet, meint Hartwell. Dazu kämen demografische Probleme und Sorgen um den Staatshaushalt. Mittelfristig werde das Wachstum darunter leiden.

Die gegenwärtig starken Wachstumszahlen müssen deshalb relativiert werden. Zum Ersten ist zu beachten, dass fast alle östlichen EU-Länder derzeit ein dynamisches Wirtschaftswachstum erleben. So avancierte die tschechische Wirtschaft im zweiten Quartal real um 4,5%, und auch die ungarische legte um 3,2% zu. Ganz Ostmitteleuropa befindet sich also in einer guten Konjunktur – gestützt auch durch die Erholung in der Euro-Zone, mit der man wirtschaftlich eng verflochten ist.

Zurückhaltende Investoren

Zum Zweiten ist das Wachstum in Polen derzeit fast ausschliesslich vom Privatkonsum getrieben. Die Menschen leisten sich mehr dank deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit und kräftig steigenden Reallöhnen, aber auch wegen des von der PiS-Regierung eingeführten Umverteilungsprogramms «500+» für Familien mit Kindern. Dieser Konsumboom ist grundsätzlich erfreulich; er dürfte sich aber nicht halten lassen. Hingegen sieht die Lage bei den Investitionen, die für die längerfristige Wirtschaftsentwicklung zentral sind, eher ernüchternd aus.

Detaillierte Daten zeigen, dass die Investitionen nach dem Amtsantritt der PiS-Regierung einbrachen – und das lag nicht allein daran, dass es eine Delle bei der Auszahlung von EU-Strukturhilfen gab, die alle östlichen EU-Länder im Jahr 2016 durchmachten. In Polen gingen auch die privaten Investitionen zurück: Einerseits verhielten sich die inländischen Unternehmen zögerlich, anderseits flossen weniger Direktinvestitionen aus dem Ausland. Zwar dürften dieses Jahr die Gesamtinvestitionen wieder anziehen, weil die Politik wieder mehr Geld aus den EU-Strukturfonds in öffentliche Projekte fliessen lassen kann. Aber noch im ersten Quartal 2017 trugen die Investitionen nichts zum Wirtschaftswachstum bei, was auf eine anhaltende Zurückhaltung der privaten Akteure hindeutet. Detaillierte Daten zum zweiten Quartal werden erst in einigen Wochen publiziert.

Mithin dürfen sich die Polen darüber freuen, dass sie wirtschaftlich weiterhin vorankommen – und so auch zu Westeuropa aufholen. So liegen die Durchschnittslöhne immer noch bei nur gut 4000 Zl. (1070 Fr.) pro Monat. Aber die starken Wachstumszahlen können nur notdürftig verdecken, dass die umstrittene PiS-Politik ihre Spuren hinterlässt. Früher oder später dürfte sich das im Wirtschaftsgang niederschlagen.